… seht Ihr mich seltener. Ich sitze in einem kleinen Café in Schleswig und trinke einen Kaffee. Filterkaffee schwarz, alles andere ist ja neumodischer Schnickschnack. Heute morgen hatte ich mein letztes Training im Rahmen dessen, was Sarah Blog-Experiment genannt hat. Zumindest steht immer Experiment auf meinen Trainingsplänen. Als einer der bequemsten Menschen der Welt habe ich mich drei Monate lang als Sportler versucht und vielleicht wird nun ein Abschlussbericht von mir erwartet, am besten einer mit Augenzwinkern und vielleicht der ein oder anderen Pointe. Also sitze ich hier nun freiwillig und unbezahlt im Café und versuche, mich zu erinnern, was da alles war, was ich alles erlebt habe.
Blumig ausgedrückt: Es war ein Blumenstrauß an Erfahrungen. Nein, besser noch: Es war eine Transatlantik-Kreuzfahrt mit schwerem Wellengang an der Elbmündung und Sonnenschein in Miami. Ich habe verdammt viele Dinge gesehen, an die ich mich noch lange erinnern werde. Ich habe 1500 kg wackelndes Fleisch die mindestens gleiche Menge harten Stahls stemmen gesehen. Ich habe den Geruch körperlicher Arbeit intensiver denn je wahrgenommen: den Schweiß anderer Menschen und ich habe selbst Pfützen davon hinterlassen. Ich habe erstaunt die Gelenkigkeit einer Kollegin auf dem Gymnastikball wahrgenommen. Das sage ich ohne Implikationen, sondern aus reiner Verwunderung, da sie doch immer irgendwie verknotet hinter ihrem Monitor kauert.
Ich habe mich mindestens sechs Mal verliebt und wurde bestimmt sieben Mal verschmäht. Ich habe auf einem Ergometer vier Mal das erste Kapitel von Ransmayrs Der Weg nach Surabaya angefangen und dann entnervt zu einem schwedischen Krimi gegriffen, weil das Lesen beim Sport doch nicht ganz so leicht fällt. Beim Krimi ist es zumindest egal, was wie beschrieben wird. Ich habe ein Hörbuch von David Foster Wallace gehört und versucht, Sky DuMont zu folgen, wie er mir den Großen Gatsby vorliest. Der hatte aber auch zu lange Sätze.
Ich hatte ziemlich viele gute Ideen und ich habe herausgefunden: Traurige Musik passt schlecht zum Krafttraining. Ich habe einen Menschen gesehen, der runtergekommener und älter aussah als Franz Josef Wagner und tatsächlich noch buschigere Augenbrauen hatte. Trotzdem hat er das Doppelte an Gewicht auflegt wie ich. Ich habe Köpfe gesehen, die einfach zu klein für die sie tragenden Schultern waren.
Ich habe gesehen, wie mein Kollege Thore von einer Frau auf einem Indoor Cycle angeschrien wurde und er dann noch schneller getreten hat. Ich habe aufmunternde Kommentare von meinen Kollegen bekommen. Ich habe drei unterschiedliche Trainingspläne … gerockt [!]. Ich habe Sprüche gehört, so unangebracht und zu einem so falschen Zeitpunkt, dass sie glatt von mir hätten kommen können. Ich habe ca. 1000 Kilometer auf dem Ergometer zurückgelegt (das ist die Strecke von unserer Schleswiger Filiale bis zu unserer Zürcher Filiale, aber ohne Stau oder Baustellen!) und ich habe endlich gelernt zu laufen. Ich habe über 7 kg abgenommen und einen flacheren Bauch bekommen. Ich habe mein schickes Hemd endlich wieder tragen können. Und ich habe manchmal geflucht wie ein betrunkener englischer Droschkenkutscher in Paris.
Ich habe sogenannte Leistungsträger unserer Gesellschaft eine halbe Stunde lang so rabiaten Blödsinn über Politik und Kultur reden hören, dass ich sie der Latzug-Station verwiesen habe, die sie eine halbe Stunde, ohne zu trainieren, blockiert hatten. Habe ich tatsächlich, obwohl das Wort verwiesen vielleicht etwas stark ist. Ich habe Tattoos gesehen, über die ich laut lachen musste. Und ich habe die feinen anatomischen Unterschiede von Beinstrecker und Beinbeuger kennengelernt, denn in beiden hatte ich Muskelkater. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Ich habe in einem Fitness-Studio trainiert.
Um bei dem verqueren Kreuzfahrt-Vergleich zu bleiben, denn er passt tatsächlich wunderbar zu meinem „Lebenslauf“: Am Anfang meines Trainings war ich seekrank, ich hätte die ganze Zeit kotzen können. Ich erinnere mich ungern einer Szene, von der mein Vater gerne erzählt, auch, wenn er gar nicht dabei war. Als Christian noch klein war, ist er nach Helgoland gefahren. Die See war rau und ihm flau. Vor lauter Übelkeit hat der kleine Christian sogar nach dem Schiffsarzt gerufen! Mit meiner Seekrankheit hat es sich aber mittlerweile gelegt, mir entfährt sogar mal ein freudiges „Hui“, wenn das Schiff in einen Wellenberg knallt. Trotzdem würde ich niemals eine Kreuzfahrt buchen. Und so geht es mir auch mit dem Fitness-Studio. Einige Sachen waren echt toll und meine anfängliche Radikal-Opposition habe ich ablegen können, aber ich trainiere einfach lieber zu Hause. Ich mache regelmäßig Sport und freue mich darüber, auch mal ordentlich beim Essen zuschlagen zu können – ganz ohne schlechtes Gewissen. Ich mache weiter damit und werde mich nun nach ein wenig Fitness-Equipment umsehen, das in meine Wohnung passt – zum Glück sitze ich da ja an der Quelle. Also werde ich mich nächste Woche an die Analyse meines Trainings setzen und meine Fitness-Zukunft planen, das kann ja was werden …